Text von Hermann-Josef Rapp (Die Stimme des Reinhardswaldes)

Märchenwald Reinhardswald

Bei der Diskussion über den emotionalen Wert des Reinhardswaldes im Sinne eines Märchenwaldes wird häufig diese Wertung auf das NSG und FFH-Gebiet „Urwald Sababurg“ reduziert.

Diese Betrachtung ist falsch.

Der „Urwald Sababurg“ mit seiner Größe von 92 Hektar gilt zwar als bekanntestes Waldstück Deutschlands, wird jährlich von einer steigenden Besucherzahl frequentiert, die sich dem sechsstelligen Bereich nähert und zieht unzählige Naturfotografen aus mehreren Ländern an.

Das, was man dort sehen und erleben kann, wird häufig als märchenhaft beschrieben und hat auch schon mehrfach als Drehort für Märchenfilme gedient.

Die Einstufung des Reinhardswaldes als „märchenhaft“ bezieht sich aber auf die Gesamtfläche von rund 200 qkm und verfügt über eine Fülle von Orten und Requisiten, die insgesamt die Bezeichnung „Märchenwald“ untermauern. Drehorte entsprechender Filme befinden sich auf die Gesamtfläche verteilt.

Dazu gehören die Fließ- und Stillgewässer, also naturbelassene Bachläufe (z. B. Holzape, Lempe, Olbe, Hemel, Ahle, Rattbach, Elsterbach), Teiche aus dem 16. Jahrhundert (z. B. Keßpfuhler Teich, Hinterkampteich, Mühlstädter Teich, Wilde Teiche) und neuere Teichanlagen (z. B. Finkenteich, Lägerteiche, Alaunteich).

Charakteristisch sind auch die kilometerlangen Eichenalleen, die besonders ausgeprägt in Beberbeck zu bewundern sind, aber auch die Hochfläche des Reinhardswaldes durchziehen.

Die großflächigen Huteeichenwälder aus der Zeit der Waldweide und Schweinemast im Wald sind ein weiteres Markenzeichen des Reinhardswaldes. Assoziationen zur Märchenwelt lassen sich hier schnell herstellen.

Und dazu gehören auch die riesigen Adlerfarndominanzflächen, die die Märchenwelt mit einem hohen Wildnisfaktor verbinden.

Die Ausweisung weiter Teile des Waldgebietes als Kernflächen, die den Urwald von morgen darstellen sollen, liefert jetzt schon märchenhafte Waldbilder.

Überdurchschnittlich hohe Totholzvorräte bieten hervorragende Kulissen für märchenwaldtaugliche Inszenierungen.

Und immer wieder lassen sich alte Holzhütten im Wald in „Hexenhäuschen“ für Fotografen und Filmer verwandeln. Das Dornröschenschloss Sababurg führt unangefochten die Rangliste der Märchenschlösser an.

Außergewöhnlich ist auch die Gelegenheit, hier vielen Elementen aus Flora und Fauna zu begegnen, die einen Bezug zur Märchenwelt aufbauen können. Dazu zählen das Rotwild, besonders die weißen Hirsche, Wildschweine, Rehe, Wildkatze und Füchse. Nicht ohne Grund konnte hier Günther Schumann elf Jahre lang seinen Kontakt mit der Fuchsfähe Feline und deren Nachwuchs aufrecht erhalten.

In der Luft hört und sieht man zahlreiche Kolkraben, Milane, Bussarde, Schwarzstörche, Eulen und Spechte.

Am Wegesrand erkennt man großflächig den Fingerhut und das Pfeifengras, Steinpilze und Pfifferlinge fühlen sich hier wohl.

Ein wichtiges Element für die Bewertung als Märchenwald ist seine weitgehend unzerschnittene Großflächigkeit in Verbindung mit der geringen Lärmbelastung. Das ist selten geworden in unserer Republik.

Was soll das bedeuten?

Der Reinhardswald ist ein Naturraum der besonderen Art. Einige seiner Kernelemente lassen sich sachlich und fundiert wissenschaftlich beschreiben. Es gibt aber auch Aspekte, die in die Gefühlswelt des Individuums wirken, der persönlichen Betrachtung des Einzelnen unterliegen. Und dazu gehört die Assoziation zur Märchenwelt und dem Reich der Phantasie.

In mehreren Kursen der vhs-Kassel ist diese Seite des Reinhardswaldes interpretiert und vorgestellt worden. Die Exkursionen dazu waren jeweils überzeugend.

Wenn also mitten in diesen Landschaftsraum 20 Windräder ungeheurer Größe errichtet werden, ist es einerlei, ob das im „Urwald“ selbst, an seinem Rand oder in fünf Kilometer Entfernung geschieht.

Das hochwertige Produkt „Märchenwald Reinhardswald“ wird dann so oder so in seiner Substanz zerstört.